Achtsamkeit gegen Depression – Was ist dran?
Amelie Haupt | 23-07-2019 | 5 min LesezeitEine Depression kann wie ein riesiger, beängstigender Wald wirken, in dem du dich verlaufen hast. Alles ist im Nebel verschwunden: Freunde, Familie, der geliebte Geschmack der Pizza Hawaii, der Schlaf. Die Pfade sind zugewachsen und alles sieht gleich aus. Am schlimmsten ist das Gefühl der völligen Isolation.
Doch selbst im dunkelsten Winkel ist es möglich, dass dir eine Hand von außen gereicht wird, die dir hilft, den Wald mit Abstand zu betrachten. Die hohen Bäume sind dann gar nicht mehr so bedrohlich und hier und dort lassen sich kleine Lichtungen und Wege ausmachen. Wie ist dieser Perspektivenwechsel möglich? In diesem Artikel erfährst du, wie Achtsamkeit dich unterstützen kann, einen Weg aus der Depression zu finden.
Achtsamkeit als Alternative zu Antidepressiva?
Während die Einen Achtsamkeit als willkommene Alternative zur westlichen Medizin feiern, schmähen die Anderen die fernöstliche Importware als Schlangenöl. Wie so oft liegt die Wahrheit vermutlich irgendwo in der Mitte. Die große Frage ist also: Wie und unter welchen Umständen hilft Achtsamkeit gegen Depression?
Bei schweren und chronischen Depressionen kannst du dir den eingangs beschriebenen Wald als regelrechten Urwald vorstellen. Antidepressiva und Psychotherapie sind dann das gängige Mittel der Wahl, um die zugewachsenen Pfade und Wege freizulegen. Bei leichten Depressionen konnte allerdings in klinischen Studien keine eindeutige Wirkung der medikamentösen Behandlung belegt werden. [1] [1] Wie wirksam sind Antidepressiva?: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Gesundheitsinformationen Hier bieten sich achtsamkeitsbasierte Verfahren als Alternative an – mit denen du zudem keine körperlichen Nebenwirkungen riskierst.
Rund 10 bis 15 % der Patient*innen brechen die Behandlung mit Antidepressiva aufgrund der Nebenwirkungen, wie z. B. Kopfschmerzen, Gewichtszunahme oder Störungen der Sexualität, vorzeitig ab. [2] [2] Wie wirksam sind Antidepressiva?: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Gesundheitsinformationen Da eine Depression keinesfalls unbehandelt bleiben sollte, kann Achtsamkeit ein sinnvoller „Plan B” sein, falls du die Medikamente nicht verträgst. Wichtig ist eine Behandlung, die dem entspricht, was du nun wirklich brauchst und mit der du zurecht kommst. Schließlich trägt die Depression selbst schon genug zu deinem persönlichen Unwohlsein bei.
Wie wirkt Achtsamkeit gegen Depression?
Wir sind es gewohnt Krankheiten mit Tabletten oder Operationen zu heilen. Deswegen klingt es zunächst wie ein schlechter Witz dem biochemischen Ungleichgewicht einer Depression durch bewusste Atmung im Schneidersitz entgegenzuwirken. Laut dem Cambridge-Professor John Teasdale wirkt die fernöstliche Praxis vor allem aus folgenden Gründen: [3] [3] Interview: PsychCentral (2018): How does Mindfulness reduce Depression?
Depression, das hieße vor allem: grübeln, nachdenken, Sorgen machen und noch ein bisschen grübeln. Die negativen Gedanken kosten Energie, wie ein Elektrogerät im ewigen Stand-by, erklärt Teasdale. In Achtsamkeitsübungen lenkst du deinen Fokus auf andere Dinge, wie z. B. den Atem. Indem du deine Aufmerksamkeit vom negativen Gedankenstrom weg lenkst, verliert er an Kraft.
Viele Betroffene klagen außerdem, sie seien zu sehr „in ihrem Kopf”. Sie möchten gerne das Gedankenkarussell stoppen und aufhören, alles zu zerdenken. Achtsamkeit bezieht sich auf die Präsenz im Moment, auf das Hier und Jetzt in deinem Körper und die physische Welt um dich herum. Das kann der Duft der Blumen sein, die glatte Oberfläche des Holztisches oder die Muskeln in deinem Körper. Das Wiederkauen der Vergangenheit oder das Grübeln über die Zukunft finden keinen Raum, wenn du deine gesamte Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richtest.
Teasdale erklärt weiterhin, dass Achtsamkeit helfe, Abstand zu gewinnen. Indem du dich selbst als Beobachter*in siehst, schaffst du Distanz zwischen dir und deinen negativen Emotionen und wirst nicht mehr von ihnen überwältigt. Mit etwas Abstand betrachtet, sei selbst die Depression „lediglich” ein ungesundes Verhaltensmuster, eine schlechte Angewohnheit, wie der automatische Griff zur Zigarette – aber nicht Teil deiner Persönlichkeit.
Wie achtsam bist du? Hier geht’s zum Achtsamkeitstest
MBSR gegen Depression
Die wohl bekannteste der achtsamkeitsbasierten Methoden ist die Mindfulness-Based-Stress-Reduction (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, MBSR) nach Jon Kabat-Zinn. Das Programm umfasst verschiedene Formen von Meditationen wie z. B. Atemübungen oder die Entspannungstechnik des Body Scans.
Da MBSR eine klinisch anerkannte Methode ist, lässt sie sich auch am häufigsten in Studien finden und gilt bisher als wirkungsvoller als andere Achtsamkeitsübungen wie z. B. die progressive Muskelentspannung nach Jacobson oder Autogenes Training. [4] [4] Studie: US National Library of Medicine National Institutes of Health (2017): Mindfulness-Based Interventions for Anxiety and Depression Wichtiger als Studienergebnisse ist jedoch dein eigenes Empfinden. Höre also ganz achtsam in dich hinein, was dir persönlich guttut.
MBCT als Rückfallprävention
So wie ein Wald immer wieder zuwuchert, ist auch die Depression ein hartnäckiges Unkraut: Acht von zehn Patienten erleiden Rückfälle. Daher ist die Prävention ein essenzieller Teil der Behandlung. Bei einer medikamentösen Behandlung heißt das für die Patient*innen allerdings, dass sie nach Abklang der Symptome noch sechs Monate bis zwei Jahre lang Antidepressiva einnehmen müssen.
Aus diesem Grund entwickelte der bereits erwähnte Psychologe Teasdale die Mindfulness Based Cognitive Therapy (Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie, MBCT). MBCT ist eine kognitive Verhaltenstherapie, die mit Entspannungsübungen aus dem MBSR-Programm kombiniert wird. Hinzu kommen Gruppensitzungen, bei denen die Teilnehmer*innen über mögliche Verhaltensänderungen sprechen, um schwierige Alltagssituationen besser zu bewältigen.
Diese achtsamkeitsbasierte Therapie verhindert bei 40 % bis 50 % der Patient*innen einen Rückfall und ist damit genauso effektiv wie Antidepressiva – und zwar ohne körperlichen Nebenwirkungen. [5] [5] Psychologie/Hirnforschung: Christian Wolf/www.spektrum.de (2015): Mit Achtsamkeit aus dem schwarzen Loch Teasdale erklärt den Erfolg seiner Therapie damit, dass der vielfältige Strauß an Achtsamkeitsübungen für jede Person und Situation die richtige Lösung bereithält. [6] [6] Interview: PsychCentral (2018): How does mindfulness reduce Depression? Zudem trainiert Achtsamkeit die Wahrnehmung. Wenn sich negative Gedanken zusammenbrauen und eine Rückkehr der Depression ankündigen, lassen sich mit Teasdales Therapie die Warnzeichen schon früh genug erkennen, um entsprechend zu reagieren.
Mit Achtsamkeit die Wartezeit überbrücken
In Deutschland besitzen ca. 9000 Psychotherapeut*innen eine Kassenzulassung. Sie haben somit Kapazitäten für etwa 1,5 Millionen Patient*innen. Allerdings leiden mehr als 5 Millionen Menschen unter psychischen Erkrankungen. [7] [7] Gibt es genug Psychotherapeuten?: Wiebke Toebelmann/www.zeit.de (2011): "Kein Platz für die Liege" Die Wartezeit für einen Therapieplatz beträgt durchschnittlich 80 Tage. [8] [8] Psychologenmangel in Deutschland: Jens Lubbadeh/Spiegel Online (2012): "Therapeut verzweifelt gesucht" Damit die Depression sich in dieser Zeit nicht noch tiefer verwurzelt, kannst du dich bei deiner Krankenkasse über Achtsamkeitstraining informieren. [9] [9] Gesundheitskurse: Krankenkassen Deutschland/Euro-Informationen (2019): Krankenkassen unterstützen Vorsorge Viele Kassen übernehmen bis zu 80 Prozent der Kosten für Stresspräventions-, Yoga- oder Achtsamkeitskurse. Sogar Meditations-Apps finden sich im Angebot. [10] [10] Die Krankenkasse zahlt: www.7mind.de (2019): Deutschlands beliebteste Meditations-App Du hast also jede Menge Möglichkeiten, um dich so schnell wie möglich auf die Suche nach einem Ausweg zu machen und musst nicht darauf warten „gerettet” zu werden.
Oftmals gehen Depression und Angststörung Hand in Hand. Wie Achtsamkeit dir auch bei Ängsten helfen kannst erfährst du hier.
„Nebenwirkungen” von Achtsamkeit
Es ist nicht alles Gold, was glänzt und so kommt auch Achtsamkeit nicht ohne potenzielle Nebenwirkungen. Besonders das Meditieren kann die Neigung zum Grübeln verstärken. Zwar geht es in der Theorie darum, negative Gedanken zu akzeptieren, doch in der Praxis ist das leichter gesagt als getan. [11] [11] Meditation: Mechthild Klein/www.zeit.de (2018): "Hör mir auf mit Achtsamkeit" Hierbei ist folgendes wichtig: Übe dich in Achtsamkeit, wenn der Wald nicht ganz so bedrohlich und düster aussieht und es dir etwas leichter fällt. Dann kann sie dir an den schwierigen Tagen als nützliches Instrument dienen, mit dem du umzugehen weißt. Schließlich lernt man ja die Mund-zu-Mund-Beatmung auch nicht erst, wenn der Notfall schon eingetreten ist.
Fazit
Die verschiedenen Behandlungsoptionen, die Angst vor der medikamentösen Behandlung oder die Sorge, keinen Therapieplatz zu bekommen, können eine Depression zu einem noch dichteren Wald zuwuchern lassen. Wir hoffen, dir mit diesem Artikel helfen zu können, einen Weg aus dem Dickicht zu finden. Zum Abschluss möchten wir dir außerdem noch einen positiven Gedanken mit auf den Weg mitgeben:
Wenn eine psychische Erkrankung wie die Depression etwas Gutes haben kann, dann ist es, dass man komplett auf null gestellt wird und neu herausfinden kann: Was tut mir eigentlich gut? – Armin Rösl, Pressesprecher der Depressionsliga.
Falls du oder jemanden aus deinem Bekanntenkreis unter depressiven Symptomen leidet, findest du hier Hilfe:
SeeleFon: 01805 950951
E-Mail Beratung: seelefon@psychiatrie.de
Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Info-Telefon: 0800 / 33 44 533
Regionale Angebote: Landkarte
Diskussionsforum Depression
Austausch mit Betroffenen: Online-Forum
Seelsorge
Allgemeine Seelsorge und Suizidprävention: E-Mail, Chat, Telefon und vor Ort
Selfapy (kostenpflichtig)
Online-Kurse und Beratung
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Dieser Beitrag stammt von Amelie Haupt. Sie ist dank ihrem Studium der Wirtschaftspsychologie die „Psycho-Tante“ vom 6-Minuten Verlag. Mag ihre Texte, wie ihr Leben: mit Struktur. Die braucht sie auch, wenn sie wieder mal als digitale Nomadin unterwegs ist.
Quellen:
[1, 2] Wie wirksam sind Antidepressiva?: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Gesundheitsinformationen
[3, 6] Interview: PsychCentral (2018): How does Mindfulness reduce Depression?
[4] Studie: US National Library of Medicine National Institutes of Health (2017): Mindfulness-Based Interventions for Anxiety and Depression
[5] Psychologie/Hirnforschung: Christian Wolf/www.spektrum.de (2015): Mit Achtsamkeit aus dem schwarzen Loch
[7] Gibt es genug Psychotherapeuten?: Wiebke Toebelmann/www.zeit.de (2011): "Kein Platz für die Liege"
[8] Psychologenmangel in Deutschland: Jens Lubbadeh/Spiegel Online (2012): "Therapeut verzweifelt gesucht"
[9] Gesundheitskurse: Krankenkassen Deutschland/Euro-Informationen (2019): Krankenkassen unterstützen Vorsorge
[10] Die Krankenkasse zahlt: www.7mind.de (2019): Deutschlands beliebteste Meditations-App
[11] Meditation: Mechthild Klein/www.zeit.de (2018): "Hör mir auf mit Achtsamkeit"
1 Kommentare
Ich weiß leider aus eigener Erfahrung, wie es ist mit dieser Krankheit zu leben und hab mich eben sehr gefreut, als ich hier auf euren Beitrag gestoßen bin. Von der MBSR hatte ich bisher nichts gehört und werde es definitv mal ausprobieren. Meine Therapeutin hat mir auch empfohlen, im Anschluss an die Therapie ein Dankbarkeitstagebuch zu führen und meinte, dass euer Tagebuch sich dafür gut eignet. Ich denke, dann bin ich gut ausgerüstet :-)