Willenskraft stärken: 2 Schritte zu mehr Selbstdisziplin ohne Stress
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg”, heißt es. Ärgerlich nur, dass Willenskraft eine limitierte Ressource ist und ein Energievorrat, mit dem wir tagtäglich haushalten müssen. [1] [1] Unsere Willenskraft ist nicht unendlich verfügbar: Muraven & Baumeister (2000): Self-regulation and depletion of limited resources: Does self-control resemble a muscle? Was also, wenn mal kein Wille mehr da ist, um den Weg zu gehen?
Warum Selbstdisziplin als Erfolgsgarant ohnehin überbewertet wird und wie du deine Willensstärke ressourcenschonend einsetzt, erfährst du in diesem Artikel. Außerdem erläutern wir dir einen neuen Aspekt des berühmten Marshmallow-Experiments, der zu oft unerwähnt geblieben ist.
Was ist Willenskraft?
Vielleicht hast du schon einmal vom Marshmallow-Experiment gehört. Darin setzt man Kindern einen Marshmallow vor die Nase und verlässt den Raum. Die Spielregeln: Wenn die Kinder mit dem Verspeisen der Leckerei warten, bis der Erwachsene zurückkommt, dann bekommen sie als Belohnung einen zweiten Marshmallow. Wie im Video zu sehen, folgen amüsante und herzzerreißende Minuten, in denen die Kinder mit aller Macht versuchen, der Süßigkeit zu widerstehen. Trotz Singen, Hände unterm Popo festhalten und bloß nicht auf den Teller schauen, schaffen es nur die wenigstens Kinder, die Leckerei unangetastet zu lassen.
Willenskraft ausüben heißt, Belohnungen aufzuschieben. Wenn du zum Beispiel dem Drang widerstehst hier eine hübsche Bluse und dort eine reduzierte Jeans zu kaufen, kannst du dir stattdessen mit dem gesparten Geld am Ende des Jahres einen Urlaub in Spanien gönnen. Dort stößt du dann mit einem Cocktail in der Hand auf deine Willenskraft an! Das gleiche Prinzip gilt, wenn du die Selbstkontrolle aufbringst, nur zwei Schokoladenstücke zu genießen, anstatt die ganze Tafel zu verputzen. Dann hast du zwar jetzt ein kürzeres Genusserlebnis, aber dafür umso größere Freude an deinem Strand-Body im nächsten Urlaub.
Mit anderen Worten: Wenn du nicht jederzeit deinen Impulsen, Gelüsten und Emotionen nachgibst, ist das zwar anstrengend und du erlebst weniger sofortige Befriedigungen, dafür fallen deine langfristigen Belohnungen aber umso größer aus. Neben Strandurlaub mit Strandfigur macht eine gesunde Portion Selbstkontrolle dich außerdem erfolgreicher in Bildung, im Beruf und sogar in Beziehungen. [2] [2] Willenskraft macht erfolgreich: Tangney, Baumeister & Boone (2008): High Self‐Control Predicts Good Adjustment, Less Pathology, Better Grades, and Interpersonal Success
Wie trainiere ich meine Willenskraft?
Karriere machen, eine harmonische Beziehung führen, einen Traumkörper haben – diese Ziele sind es doch wert, Versuchungen zu widerstehen und seine Impulse im Zaum zu halten, nicht wahr? Also, Zähne zusammenbeißen und aushalten! Chakka, du schaffst das!
Diese Art von Motivationsrede nutzt so mancher Coach, um an deine Selbstdisziplin zu appellieren. Das mag auch funktionieren – jedoch nur als kurzfristige Strategie. Denn Willensstärke ist eine limitierte Ressource, ein Energievorrat, mit dem wir tagtäglich aufs Neue haushalten müssen. Wenn du also schon morgens der Donut-Packung in deinem Kühlschrank widerstanden hast und auf der Arbeit etliche Entscheidungen treffen musstest, ist dein Willenskraft-Tank zur Mittagszeit schon ordentlich angezapft. Greifst du dann beherzt zum Burger, statt dich zu einem Salat zu überreden, ist das nur menschlich.
Das Geheimnis starker Willenskraft
Dass Willenskraft keine übermenschliche Selbstkontrolle benötigt, zeigt der oft unerwähnte Teil des originalen Marshmallow-Experiments. [3] [3] Belohnungsaufschub geht auch ohne Anstrengung: Mischen & Ebbesen (1970): Attention in Delay of Gratification Wie oben beschrieben, saßen einige Kinder mit großen Augen vor der Süßigkeit. Bei einer weiteren Testgruppe hingegen nahm der Versuchsleiter die verlockende Süßigkeit wieder mit und die Kinder verbrachten die Wartezeit von 15 Minuten in einem leeren Raum – mit der Option, jederzeit nach dem einzelnen Marshmallow als Belohnung zu fragen. Der Unterschied war beachtlich: In der ersten Versuchsanordnung schafften die Kinder es nur durchschnittlich sechs Minuten lang, ihre Hände von der Leckerei zu lassen. Ohne die Versuchung vor der Nase lag die durchschnittliche Wartezeit bei ganzen elf Minuten. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Genauso kannst du deine Willenskraft klug einsetzen, um kurzfristig einige „Marshmallows” aus deinem Leben zu entfernen: Verstecke Süßigkeiten im hintersten Schrankfach, lege den Fahrradschlüssel statt des Autoschlüssels bereit oder nimm die Seitenstraße, statt an den Schaufenstern der Ladenzeile entlangzulaufen.
Ein weiteres Beispiel: Wenn dein Handy permanent in Griffweite liegt und ein Pling nach dem anderen ertönt, wäre es eine Herkules-Aufgabe, nicht schnell mal zu checken, ob es vielleicht eine Nachricht von der Chefin oder des besten Freundes ist... Ein cleverer Weg, deine Willenskraft zu schonen? Installiere App-Blocker, um nur die wichtigsten aller wichtigen Anrufe zu empfangen, setze dein Smartphone komplett auf Flugmodus oder versteck es in einer schalldichten Box im Badezimmer-Schrank. Dadurch musst du nur einmal Willenskraft aufbringen, dein Handy als Störquelle zu eliminieren. Anschließend kannst du deine verbleibende Willensstärke in deine Arbeit oder auch in ein tiefgründiges Gespräch mit Freunden investieren.
Ein großes Geheimnis der Selbstdisziplin ist also: Nutze deine Willensstärke, um möglichst viele „Marshmallows” in deinem Umfeld zu eliminieren und nicht, um ihnen zu widerstehen. Wir haben nun zwei Schritte für dich, um deine limitierte Willensstärke nachhaltiger einzusetzen.
Willenskraft ist die größte Stärke des Menschen, aber die beste Strategie ist, sich nicht in allen Situationen auf sie zu verlassen. Spare sie auf für Notfälle. – Roy F. Baumeister
Schritt 1: Marshmallows eliminieren und schlechte Gewohnheiten vermeiden
Überlege dir zunächst, was deine persönlichen Marshmallows sind. Erinnere dich dafür an typische Gewissenskonflikte im Alltag, bei denen du denkst „Ich sollte besser nicht … den Fernseher anschalten, durch Facebook scrollen, vom Lieferdienst bestellen, mich ,kurz’ ins Bett legen …”
Wie kannst du nun deine Umgebung so gestalten, dass diese Marshmallows schlichtweg nicht mehr vor deiner Nase tanzen und du somit kaum noch Selbstdisziplin brauchst, um ihnen zu widerstehen? Werde kreativ! Richte dir einen Arbeitsplatz ein, statt auf der gleichen Couch zu lümmeln, auf der du auch Netflix schaust. Die Lieferdienst-App erlaubst du dir mithilfe der Zeitschaltuhr im App-Blocker nur noch an einem Tag der Woche, um an den restlichen Tagen selbst zu kochen. Auf der Arbeit verabredest du mit den Kolleg*innen, dass ihr die Kaffeemaschine nach 15:00 Uhr mit einem Tuch bedeckt oder im Schrank versteckt. Mag albern klingen, funktioniert aber.
Schritt 2: Marshmallow-Alternativen finden und gute Gewohnheiten aufbauen
Verzicht macht leider selten gute Laune und kostet auch unheimlich viel Willenskraft. Finde deswegen für jeden eliminierten Marshmallow eine gesunde Alternative, die dich auch ein bisschen glücklich macht und deinen inneren Schweinehund versöhnlich stimmt:
Statt Kaffee kannst du am Nachmittag mit leckeren Tee-Sorten experimentieren (bei uns steht Sonnenblumen-Blaubeer-Tee hoch im Kurs) oder auf koffeinfreien Kaffee umsteigen. Statt dir Pizza liefern zu lassen, kannst du eine gesunde Kochbox abonnieren, mit der du dank Baukastenprinzip schnelle Gerichte zauberst. Statt zu Süßigkeiten und Chips darfst du beherzt zu Obst und Nüssen greifen. Du ersetzt also eine schlechte Gewohnheit durch eine gute – oder zumindest bessere – Gewohnheit.
Scheu dich auch nicht davor, die Hürden für eine Gewohnheit möglichst klein anzusetzen. Dich jeden Tag mit zusammengebissenen Zähnen zum Sport zu treiben oder zum Salat zu zwingen, kostet dich viel Willenskraft. Doch was hältst du davon, in der Kantine von nun an eine kleine Portion Salat mitzunehmen, die du als erstes isst? Oder ab heute immer die Treppe in die zweite Etage zu nehmen?
Es dauert ca. 66 Tage, bis etwas zur Gewohnheit wird. [4] [4] Ab wann wird eine Gewohnheit zur Gewohnheit? Lally, van Jaarsveld, Potts & Wardle (2009): How are habits formed: Modelling habit formation in the real world In diesen 66 Tagen brauchst du ein wenig Willenskraft, um dich gelegentlich an dein Ziel zu erinnern. Doch je attraktiver deine Alternativen und je kleiner die Hürden sind, desto weniger musst du dich in dieser Zeit disziplinieren. Und wenn dir diese guten Taten erst einmal in Fleisch und Blut übergegangen sind, dann musst du keine inneren Konflikte mehr mit deinem Schweinehund austragen. Lass dich stattdessen von deinem Gewohnheitstempomat durch die Pflichten des Tages tragen, ganz ohne nachzudenken.
Hier findest du übrigens noch acht weitere Tipps, um gute Gewohnheiten zu entwickeln!
Selbstdisziplin ohne Stress
Das Leben ist schon schwierig genug, also geh bitte nicht zu hart mit dir ins Gericht! Nimm dir nicht vor, gleich alle Marshmallows aus deinem Leben zu verbannen und mit einem Schlag durch gute Gewohnheiten zu ersetzen. Knöpfe dir stattdessen einen Marshmallow nach dem anderen vor.
Wie wäre es zum Beispiel, wenn du den Wecker am anderen Ende des Raumes versteckst, damit du am Morgen keinesfalls in die ewige Schlummertasten-Falle tappst? Oder du lässt deine Naschereien von deinen Mitbewohner*innen verstecken und bekommst sie nur wieder, wenn du eine halbe Stunde joggen gehst. Oder du schaust dir mal unser 6-Minuten Erfolgsjournal an, um mit weniger Willenskraft mehr zu schaffen – ohne geschafft zu sein.
Und wenn du auch im Home-Office arbeitest und eine gute Idee hast, wie man dem Bett seinen verführerischen Charme nehmen kann, dann schreib deinen Tipp gerne in die Kommentare!
Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher. – Albert Einstein
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Dieser Beitrag stammt von Amelie Haupt. Sie ist dank ihres Studiums der Wirtschaftspsychologie die „Psycho-Tante“ des 6-Minuten Verlags . Mag ihre Texte, wie ihr Leben: mit Struktur. Die braucht sie auch, wenn sie wieder mal als digitale Nomadin unterwegs ist.
Quellen:
[1] Unsere Willenskraft ist nicht unendlich verfügbar: Muraven & Baumeister (2000): Self-regulation and depletion of limited resources: Does self-control resemble a muscle?
[2] Willenskraft macht erfolgreich: Tangney, Baumeister & Boone (2008): High Self‐Control Predicts Good Adjustment, Less Pathology, Better Grades, and Interpersonal Success
[3] Belohnungsaufschub geht auch ohne Anstrengung: Mischen & Ebbesen (1970): Attention in Delay of Gratification
[4] Ab wann wird eine Gewohnheit zur Gewohnheit? Lally, van Jaarsveld, Potts & Wardle (2009): How are habits formed: Modelling habit formation in the real world
11 Kommentare
Hallo
mich befremdet, dass Albert Einstein mehrmals zitiert wird – er hat seine erste Frau mehrmals davon abgebracht, dass auch ihr Name bei den Artikeln stand. „Da passt dann, man muss es sich einfach machen.“… Glaubt man der Biografie von Marie Benedict, finde ich es degradierend als Frau diese Zitate lesen zu müssen…
An Mystik:
Im Internet findet man ja wirklich manchmal sehr wertvolle Informationen (wie hier).
Wenn ich mich beim Surfen erwische, was manchmal ein bisschen dauert, breche ich ab und speichere diesen Link ab – z.B. habe ich eine “Lesen”-Liste in der To-Do-App von MS. Oder natürlich im Browser abspeichern.
Abends, wenn ich dann Zeit habe und noch Lust zum Lesen habe, schaue ich die Links da durch.
Dadurch entscheide ich bewusst, was ich mit den Sachen mache – manchmal ist es Schrott oder nicht wert mehrfach zu lesen, dann lösche ich es wieder. Wenn es interessant ist, hake ich es ggf. nur ab, um später mal wieder reinzuschauen.
Amelie, danke für diesen tollen Beitrag, ist in meiner App gespeichert!
Gutes Neues Jahr an alle :-)
Eine Frage: Ich schaffe es einfach nicht, während der Arbeit das Internet zu meiden, was sich natürlich auf meine Arbeitsleistung niederschlägt. Einen entsprechenden Blocker kann/darf ich leider nicht auf meinen Dienst-PC laden. Habt Ihr vielleicht Tipps für mich?
Es ist immer wieder inspirierend von euren Blogs und Newsletter zu lesen. Das Tage-buch sowie eure Artikel haben mein Leben verändern. Ich werde jetzt versuchen das Mini Konzept ausprobieren
Danke dafür!
Vielen Dank für die Tipps.
Ich arbeite seit Mitte März im Homeoffice, der Arbeitsplatz sollte nicht in der Nähe des Bettes sein. Und ich plane gezielt ein Powernap nach dem Mittagessen ein. So bin ich besser konzentriert am Nachmittag und kann mich am Vormittag drauf freuen.
Super, dass ihr diese Themen so recherchiert, dass ihr auch Aspekte herausstellt, die man sonst nie hört! Ich habe von dem Marshmallow-Experiment schon einige Male gelesen, auch in eurem 6-Minuten-Tagebuch übrigens :), aber dieser eine Teil des Versuchs mit dem Wegnehmen aus dem Blickfeld war mir total neu, Dabei ist er so zentral! Ich habe auf jeden Fall gute Schlussfolgerungen für mein Leben daraus gezogen. Danke dafür Amelie!
Sehr guter Artikel, danke dafür ;)
Super Anregungen, wie man sich im Alltag einige schlechte Angewohnheiten abgewöhnen kann!
Ich werde gleich mal meinen Kolleg*innen vorschlagen, dass wir nach 16h die Kaffeemaschine vor uns selbst verstecken. Alle sagen immer, sie wollen weniger Kaffee trinken (mir inklusive), aber wenn man ständig an der Maschine vorbei läuft und das Aroma riecht, dann ist das einfach zu verführerisch!
Vielen Dank für den wunderbaren Artikel.
Ein weiteres sehr gutes Buch ist Willenskraft – wenn Aufgeben keine Alternative ist von Michael Langheinrich.
Vom klassischen Kaffe habe ich mich verabschiedet, mir eine sehr schöne Tasse gekauft (der Text auf der Tasse heißt “Schluck für Schluck zum Glück”) und trinke dafür einen grünen Kaffee, der ist basisch und durch seine Zutaten wie Maitake, Reishi und Cordyceps ein echter Energielieferant.
Ich wünsche euch allen einen schönen Tag,
LG aus Baden-Baden Gabriele
Wieder ein hervorragender Beitrag! Auch super, dass ihr die immer im Newsletter ankündigt. Die möchte ich nämlich auf keinen Fall verpassen!
Ich find diesen alternativen Weg für mehr Selbstdisziplin aber OHNE Stress sooo super! Ich find immer dieses “Durchbeißen und push dich an deine Grenzen” total schlimm. Mir schlägt das völlig auf die Psyche und früher oder später breche ich dann zusammen. Euer Weg über die Gewohnheiten scheint mir der klügere Weg zu sein – und der achtsamere!